Sonntag, 5. Mai 2019

Rezi - Grenzlandtage von Peer Martin und Antonia Michaelis (oder ein politischer Artikel)

Jule ist 17, und möchte sich in den Osterferien vor den Abiprüfungen noch einmal ein bisschen (Lern-) Urlaub gemeinsam mit ihrer besten Freundin Evelyn gönnen. Doch der Plan ändert sich, als Evelyn nicht mitfahren kann, somit beschließt Jule, alleine ins sonnige Griechenland zu fliegen. Dort lernt sie Asman kennen, der es mit 31 weiteren Flüchtlingen nach einem Schiffbruch geschafft hat, sich auf die kleine Insel, auf der Jule Urlaub macht, zu retten. Die beiden kommen sich näher, und Jule erfährt vom grausamen Geschäft mit Schlepperei, vom Krieg in Syrien und lernt, was Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit mit den Menschen machen kann. Jules Welt steht auf dem Kopf. Das Meer ist ein Grab, das Dorf ein Ort des Misstrauens, quer durch die Wellen läuft eine tödliche Grenze, die niemand sieht.
Mich hat dieses Buch komplett ohnmächtig zurückgelassen. Ohnmächtig, weil ich mich so absolut hilflos gefühlt habe, die Welt einfach nur ungerecht ist, und wir nichts dagegen machen können. Ich habe geweint, wie schon lang nicht mehr bei einem Buch. Bei den meisten Büchern, bei denen mir die Tränen kommen, kann ich das Buch zu machen, mir geht die Geschichte und die Charaktere noch einige Zeit im Kopf herum, aber dann war es das auch schon wieder. Fiktion, die Handlung ist nicht echt, die Grundsituation ist nicht echt, das ist nicht wirklich so passiert und wird wahrscheinlich auch niemandem so passieren. Die nächste Stufe der mich zum Weinen bringenden Bücher, sind historische Romane, die nicht mehr (rein) fiktiv sind. Menschen mussten Dinge wie den Nationalsozialismus, den Holocaust, Hinrichtungen, wirklich erleiden. Was mich nach diesen Büchern wieder beruhigt, ist der Gedanke, dass das alles zwar passiert ist, aber abgeschlossen ist, dass es hoffentlich nie wieder so passiert. Und dann gibt es Bücher wie Grenzlandtage. Die mich auf eine Weise zerstören, wie es kaum möglich scheint. Und nicht, weil die Geschichte so schön und tragisch ist. Das auch. Aber vor allem, weil ich ganz genau weiß, dass es jeden Tag so passiert. Dass jeden Tag Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie auf ein besseres Leben im fremden, weitentfernten Europa hoffen. Dass jeden Tag Menschen auf dieser gefährlichen Flucht ihr Leben lassen, Freunde, Familie, Kinder verlieren. Dass jeden Tag Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken, weil Europa tatenlos zusieht, bewusst Menschen sterben lässt. Dass jeden Tag Menschen andere Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Religion hassen, verletzen, töten. Dass jeden Tag Menschen gefoltert, erpresst, getötet werden, weil ihre Meinung nicht passt oder weil sie etwas aussagen sollen. Und Grenzlandtage haut einem diese Fakten ins Gesicht, schlägt einen zu Boden. Weckt einen auf. Und deshalb ist es ein absolut geniales Buch, was jeder lesen sollte, oder mindestens als Schullektüre zur Bildung von Toleranz, Mitgefühl und Verständnis beitragen sollte. So viel zum Rahmen, kommen wir zum Inhalt.

Die Geschichte geht relativ schleppend los, Jule spaziert hier über die Insel, schnuppert dort ein bisschen griechische Luft, spricht hier und da mit Einheimischen und Touristen, und bekommt relativ schnell die abgeneigte Haltung gegenüber den auf anderen griechischen Inseln strandenden Flüchtlingen mit. Doch sobald sie Asman kennenlernt, beschleunigt die Geschichte, bis auf ein absolut rasantes Tempo auf den letzten hundert Seiten. Die Geschichte ist ab dem Kennenlernen (leider) relativ realitätsnah, allerdings finde ich die Grundsituation mit der Siebzehnjährigen, die alleine in den Urlaub fliegt, und dann auch ohne große Probleme den Urlaub in die Abivorbereitungszeit in der Schule verlängert, ein bisschen merkwürdig. Mich hätten meine Eltern niemals komplett alleine (Freundin Evelyn war ja eigentlich eingeplant) in den Urlaub fliegen lassen, geschweige denn sich bei wenig Melden keine Sorgen gemacht. Da erscheinen Jules Eltern etwas naiv – Naivität ist ein gutes Stichwort, denn das ist Jule gerade zu Beginn extrem, das bessert sich jedoch im Lauf des Buchs. Asman ist toll als männlicher Protagonist, tough und ausdrucksstark, was für seine Rolle auch sehr angemessen ist. An manchen Stellen erscheint er ein wenig zu gleichgültig, aber vermutlich gehört das zur (nachvollziehbaren) Abgestumpftheit seines Charakters. Auch alle anderen vorkommenden Rollen verhalten sich sehr realistisch und werden gut beschrieben.
Der Großteil des Buchs wird aus Jules Sicht durch einen auktorialen Erzähler geschildert, am Ende jedes (sehr langen) Kapitels gibt es ein paar Seiten aus Asmans Sicht – interessant dadurch, dass der „Erzähler“ Asman mit „Du“ anspricht, was es sehr selten zu lesen gibt. Anstrengend fand ich, wie die Sprachbarrieren dargestellt wurden, auch wenn die meiste Konversation auf Englisch ablief und einfach kommentarlos auf Deutsch übersetzt wurde, gab es manche Stellen, wo das Englische aufgeschrieben war, und die Übersetzung bei den noch so leichtesten Sätzen hinterher geschmissen wurde. Auch bekommt man durch sowohl schlechtes Englisch als auch schlechtes Deutsch, merkbar durch die wirrsten grammatikalischen Konstruktionen, sobald die Griechen genannte Sprachen sprechen, den Eindruck, griechische Menschen könnten weder Englisch noch Deutsch fehlerfrei.
Der Schreibstil war, wie ich es von Peer Martin auch sonst gewohnt war, sehr gut, die Autorenkombi aus Peer Martin und Antonia Michaelis hat dem Buch gut getan, auch wenn die manchmal unangenehm poetische Sprache ein bisschen gestört hat.

Das sind aber nur kleine Kritikpunkte, alles in allem war das Buch toll, gerade schmerzhafte Szenen haben noch weiter in die Magengrube geboxt, was aber nur förderlich war, um die Problematik realitätsgetreu darzustellen.

Wichtiges Buch, wichtige Botschaft, bekommt von mir durch die kleinen Kritikpunkte keine vollen 10 Punkte, sondern „nur“ 9 von 10.

Titel: Grenzlandtage
Autor: Peer Martin und Antonia Michaelis
Verlag: Oetinger
Preis: 13,99€

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen